von Inka Grabowsky, 20.10.2022
Märchenland
Märchen sind weit mehr als Geschichten aus alter Zeit für Kinder. Im Thurgau gibt es auch heute noch eine lebendige Märchenszene mit Erzählabenden für Erwachsene und mit einem Autor, der gerade sein erstes Märchenbuch veröffentlicht hat. (Lesedauer: ca. 6 Minuten)
«Es war einmal ein kleines Königreich namens Thurgovia», beginnt Oskar Süess seine Geschichte, und stellt sie damit in eine jahrhundertealte Tradition. Er sei mit Märchen aufgewachsen, sagt er.
Neben seinem Brotberuf als Angestellter an einer Tankstelle frönt er seit Jahren dem öffentlichen Erzählen als Hobby. «Eigentlich könnte jeder eine Geschichte erzählen, aber ich habe die Fantasie dafür - das ist ein Glück. Meist fliegen mir Ideen zu, wenn ich sie brauche.»
Das war auch zur Frauenfelder Martini-Mäss 2015 so, als Süess einen Auftritt als Märchenerzähler absolvierte und dabei die damals amtierenden Apfelkönigin kennenlernte. Er fragte nach der Geschichte hinter dem Königinnenamt. Sie musste zugeben, dass es schlicht als Marketingmassnahme ins Leben gerufen worden war - das war zu prosaisch für den leidenschaftlichen Unterhalter.
Die Geschichte entstand innerhalb weniger Stunden
Innerhalb weniger Stunden dachte er sich aus, wie der Ursprung in einer Märchenwelt hätte sein können. Er trug die Geschichte wieder und wieder vor Publikum vor, schliff sie jedes Mal ein bisschen runder und schrieb sie schliesslich auf.
Über einige Jahre suchte er die passenden Bilder. Mit Kinga Marie Schielke habe er schliesslich eine ideal passende Illustratorin gefunden, sagt er. Zwölf Verlagen hat er sein Märchen angeboten, elf Absagen kamen, aber eben auch eine Zusage vom Via Cuore Verlag. Nun also erklärt sein Märchenbuch, warum es eine Apfelkönigin gibt.
Oskar Süess liest aus «Die Apfelkönigin»
Märchen sind eben weit mehr als Geschichten aus alter Zeit für Kinder. Im Thurgau gibt es bis heute eine lebendige Märchenszene mit Erzählabenden für Erwachsene, Festivals wie dem klapperlapapp, das regelmässig in Romanshorn stattfindet und Legenden, die sich um bestimmte Personen und Orte ranken.
Legenden und Märli mit Modellfunktion
«Die Heiligenlegenden weisen in ihrer Funktion viele Parallelen zu Märchen auf», sagt zum Beispiel die Salensteiner Märchenerzählerin Rahel Ilg.
Seit 2007 erzählt sie neben ihrem Beruf als Bibliothekarin professionell Märchen, war auch im Vorstand der Schweizerischen Märchengesellschaft aktiv und ist nach wie vor als Regionalvertreterin des Thurgaus beteiligt, wenn im Sommer kommenden Jahres das 30-Jahr-Jubiläum der SMG gefeiert wird. «Man kann im Märchen wie in der Legende Seelenverwandte entdecken.»
Politisch korrekt sind sie nicht
Für Rahel Ilg sind Märchen auch Spiegel der Seele des einzelnen Menschen. «In mir vereinen sich naive Prinzessin, strahlender Held, die tierische Helferin und auch das wütende Rumpelstilzchen. Märli als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten ist dagegen problematisch.»
Politisch korrekt können Märchen nicht sein. Schliesslich verallgemeinern sie, sind plakativ und leben davon, eindimensionale Charaktere zu präsentieren. Das erlaubt im Gegenzug jedem, alles aus Märchen herauszulesen.
«Prinzipiell findet man alles im Märli, Zeugnisse für Feminismus ebenso wie für Antisemitismus. ‹Hans im Glück› kann man als ökonomisches Vorbild lesen. Der ‹gestiefelte Kater› ist für die einen ein Betrüger, für die anderen ein cleverer Geschäftsmann.»
Sagen werfen Schlaglichter auf die Geschichte
Bei ihren eigenen Erzählauftritten konzentriert sich Rahel Ilg gerne auf Sagen des Bodenseeraums (hier gäbe es einige Beispiele). «Sagen sind historisch und geografisch verankert. In den Sagen erkennt man, wie die Menschen früher ihre Welt interpretiert haben, mitunter auch aus vorschriftlicher Zeit, weil Sagen immer weitererzählt wurden, bevor man sie fixiert hat.»
Wie die Märchen wurden auch die Sagen in der Romantik – also vor rund 200 Jahren – gesammelt und aufgeschrieben, naturgemäss in der Sprache des 19. Jahrhunderts.
«Das ist schöne Literatur, aber wir Erzähler wollen hervorholen, was dahintersteckt. Vom ‹Urwissen der Menschheit› würde ich nicht gerade sprechen, aber es geht doch jeweils um tiefliegende menschliche Werte wie Liebe, Vertrauen, Ehrlichkeit.»
Die Thurgauer Bauern und der Teufel
Die Erzählerin kann die märchenhaften Zwerge, die Bodenschätze hüten, oder die Reichtum bringenden «Venediger Männli» mit historischen Fakten zusammenbringen, in diesem Fall mit Handelsreisenden aus Venedig, die im Mittelalter kostbare Güter wie Spiegel über die Alpen brachten.
Am bekanntesten unter den lokalen Sagen dürfte der «Ritt über den Bodensee» sein, der lange bevor Gustav Schwab den Stoff zur Ballade machte, mündlich weitergeben wurde. Im Hegau ist der böse Kobold «Poppele» immer noch vielen ein Begriff.
«Es gibt auch eine ganze Reihe von Sagen, die erzählen, wie die schlauen Thurgauer Bauern den Teufel wieder zurück in die Hölle schicken», so Rahel Ilg. «Und wir haben in der Sage eine Erklärung, wie die Höri zu ihrem Namen kam: Gott sagt nach der Schöpfung: ‹Jetzt, wo alles perfekt ist, hör ich auf› - im Dialekt verkürzt auf ‹Höri›.»
Seelsorge mit Märchen in Kreuzlingen
Geschichten aus aller Welt anhören kann man vier Mal im Jahr im Kreuzlinger Open Place, einem überkonfessionellen Treffpunkt der evangelischen Kirchgemeinde. «Als wir das Projekt 2014 planten, bekam Pfarrer Brot mit, dass ich mich gerade zur Märchenerzählerin ausbilden liess», berichtet Carola Schaad. «Er sagte ‹Das Open Place braucht eine Erzählerin›».
Seit acht Jahren gibt es deshalb regelmässig Märchenabende im Quartier Kurzrickenbach. «Die Resonanz wächst», so die pensionierte Lehrerin.
«Beim ersten Mal kam ein Dutzend Zuhörer. Inzwischen sind wir zwischen dreissig und fünfzig. Aber in der Kirche ist genug Platz für jeden.»
«Kürzlich waren zwei ältere Männer da, die früher als Verdingkinder schaffen mussten. Ihnen kamen die Tränen. Einer sagte: In der Kindheit hat uns niemand Märchen erzählt.»
Carola Schaad, Märchenerzählerin
Und es gibt den passenden Rahmen: Carola Schaad hat nicht nur Germanistik, sondern auch Theologie studiert, also schlägt sie jedes Mal eine Brücke zur Bibel, bevor es ans Erzählen geht.
Musiker versetzen in die passende Stimmung. Es gäbe inzwischen ein Stammpublikum, das je nach Thema und je nach Musikfarbe von neuen Besuchern ergänzt werde, sagt sie.
«Das Open Place eröffnet auch Menschen den Zugang zu Kultur, die sich den Eintritt für konventionelle Veranstaltungen nicht leisten können. Kürzlich waren zwei ältere Männer da, die früher als Verdingkinder schaffen mussten. Ihnen kamen die Tränen. Einer sagte: In der Kindheit hat uns niemand Märchen erzählt.»
Philosophie und Märchen vereint
Die Themen für die Erzählabende setzt Schaad gemeinsam mit den Organisatoren des «Philosophischen Cafés» des Open Place’. Dort referieren Fachpersonen und diskutieren mit den Menschen. Sie präsentiert die passenden Märchen. In diesem Jahr stehen Tod und Sterben im Mittelpunkt der Veranstaltungen. Beim nächsten Mal, am 11. November, geht es um den Aspekt «Vom Zurückfinden ins Leben».
Die passenden Geschichten zu finden sei für sie jedes Mal eine Herausforderung, so die Expertin. Sie stellt sich ihr mit Hilfe ihres eigenen Archivs. Carola Schaad ist mittlerweile stolze Besitzerin einer eigenen Märchenbuch-Bibliothek mit 850 Bänden, gefüllt mit Geschichten aus aller Welt.
Der Bestand ist dem Netzwerk der Mutabor Märchenstiftung gemeldet. Über die Website kann man nach einem bestimmten Buch suchen und wird gegebenenfalls an Carola Schaad weiterverwiesen.
Über alle Grenzen einig
Interessanterweise seien die Themen weltweit sehr ähnlich, erklärt Schaad. Mutter-Kind-Beziehungen, Umgang mit dem Alter, Eifersucht, Geiz und Gier, Leben und Tod: all das hat Menschen offenkundig überall auf der Welt zu allen Zeiten interessiert.
«Märchen befassen sich mit Menschheitsfragen. Es tut gut, sie zu besprechen, und zwar ohne die Autorität, die zum Beispiel von der Bibel ausgeht. Es verbindet, sich gemeinsam von einer Geschichte berühren zu lassen. Und es ist eine Erleichterung zu erleben, dass vor einem selbst schon andere über ein Problem nachgedacht haben.»
«Es verbindet, sich gemeinsam von einer Geschichte berühren zu lassen.»
Carola Schaad, Märchenerzählerin
Da würde der Märchendebütant Oskar Süess vermutlich zustimmen. Wie er sein eigenes Märchen geschrieben hat? Tiefenpsychologische Symbolik habe er bewusst nicht in sein Märchen eingebaut, sagt er. «Ich nehme es als Erzählung, sonst nichts. Eine versteckte Botschaft gibt es nicht.»
Wenn er selbst alte Märchen vorträgt, transportiere er manches in die Neuzeit, auch wenn das orthodoxen Märchen-Fans gegen den Strich gehe: «Ich nehme es nicht zu streng. Unter den Märchenerzählern bin ich eher der Komiker – durch meine Theatralik und den Wortwitz. Und eine böse Stiefmutter ist im Zeitalter der Patchwork-Familie eben nicht mehr zeitgemäss. Was bleibt ist die Botschaft: Es gibt Böses auf der Welt. Und man kann lernen, damit umzugehen. So sind Märchen in modernem Kontext auch heute noch erzählbar.»
«Unter den Märchenerzählern bin ich eher der Komiker.»
Oskar Süess, Märchenautor
Oskar Süess steht ein Jahr vor seiner Pensionierung und freut sich jetzt schon darauf, dann mehr Zeit für die Märchen zu haben. «Bisher bin ich eher regional bekannt, aber das könnte sich ja ändern. So oder so habe ich schon eines meiner Lebensziele erreicht: Ich wollte immer etwas schaffen, das bleibt. Und da ist ein Buch doch ein guter Anfang.»
Das nächste Buchprojekt hat er schon im Kopf - ein Märchen über Einhörner, das nicht ganz so zuckersüss sei wie üblich. Und seine «Apfelkönigin» sieht er vor dem inneren Auge schon als Musical auf den Bühnen der Schweiz.
Das Grösste für Oskar Süess aber wäre, wenn seine «Apfelkönigin» über Generationen immer weitererzählt würde.
Weiterlesen: Mehr über Märchen gibt es in dem Essay «Wie im Märchen» von Jeremias Heppeler bei uns im Magazin.
Termine mit Märchenlesungen
Buchvernissage von «Die Apfelkönigin» von Oskar Süess am 22. Oktober 2022 in der Wiler Buchhandlung adhoc. Bestellen kann man das Bilderbuch für 22 Franken über bestellung@apfelkoenigin.com
Im Historischen Museum in Frauenfeld öffnet die Kulturvermittlerin Bettina Duttweiler am 26. Oktober die «Schlossgeschichtenschatulle». Vorgelesen wird von 14 bis 15 Uhr. Geeignet für Kinder von 5 bis 7 Jahren. Kosten: 5 Franken. Anmeldung unter www.historisches-museum.tg.ch
Carola Schaad gestaltet am 30. Oktober, 19 Uhr, einen Gottesdienst der Evangelischen Kirchgemeinde Scherzingen-Bottighofen https://www.kircheamsee.ch/bericht/423 mit. Zum Thema «Loben» erzählt sie mit «Gulbrand vom Berge» eine Version des Hans-im-Glück-Themas. Am 11. November ist der nächste Märchenabend im Open Place der Kirche Kurzrickenbach in Kreuzlingen. 19 bis 21 Uhr, Kollekte
Was ist was: Märchen, Mythos, Sage und Legende
Für Germanisten gehört ein Werk wie Oskar Süess’ «Apfelkönigin» zum Genre des Kunstmärchens. Ein Merkmal dieser Kunstmärchen: Man kennt den Verfasser. Das ist bei Volksmärchen anders. Sie wurden über Jahrhunderte immer weitererzählt, weshalb es diverse regionale Versionen gibt. Die «Gebrüder Grimm» haben die Geschichten nur gesammelt, nicht verfasst. Sie waren - wie andere Romantiker auch - auf der Suche nach Zeugnissen der Volkskunst.
Mythen (die wie die griechische Götterwelt die Welt erklären) oder Fabeln (in denen sprechende Tiere etwas Lehrreiches erleben) sind noch älter. Sagen und Legenden haben anders als Märchen oft einen wahren Kern. Sie erklären ein Phänomen mit Hilfe einer Geschichte. Im Fall der Legenden geht es üblicherweise um eine Persönlichkeit, die mit real existierenden Schauplätzen in Verbindung gebracht wird. Die Legende der Heiligen Idda von Toggenburg gibt ein Beispiel.
Von Inka Grabowsky
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