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von Bettina Schnerr, 01.07.2019

«Hinter Neid steht oft Bedürftigkeit»

«Hinter Neid steht oft Bedürftigkeit»
«Ich profitiere von dem, was meine Eltern mir vorgelebt haben.» Die Schritstellerin Alexa Hennig von Lange im Interview mit thurgaukultur.ch | © Marie Häfner

Am 4. Juli stellt Alexa Hennig von Lange in Gottlieben ihren aktuellen Roman „Kampfsterne“ vor. Im Gespräch mit thurgaukultur.ch erklärt sie ihre Arbeitshaltung, wie sie mit Buchkritiken umgeht und spricht über das Kernthema das Romans, das sich in Varianten durch ihr gesamtes Werk zieht: Zwischenmenschliche Beziehungen und darunter vor allem jene, die wegen fehlender Kommunikation in Schieflage geraten.

Alexa Hennig von Lange, Ihren aktuellen Roman haben Sie in einer ungewöhnlichen Struktur angelegt. Es gibt zehn Erzählstimmen, die abwechselnd und in zum Teil unglaublich kurzen Kapiteln aufeinander folgen und das Geschehen in einer Neubausiedlung kommentieren. Wie ist diese Form entstanden?

Zunächst hatte ich nur eine Erzählstimme im Ohr. Das war die von Rita, einer vierzig Jahre alten Mutter von zwei Kindern. Rita erzählte mir sozusagen, was sie beschäftigt. Dabei tauchten weitere Figuren auf: Sie beobachtet zum Beispiel ihre Tochter im Garten zusammen mit Nachbarstochter Lexchen oder sie denkt über deren Mutter nach. Anhand solcher Puzzlesteine merkte ich, welche Figuren ebenfalls einen Blick auf das Geschehen haben und beitragen können. Viel musste ich nicht tun, weil sie alle eine Meinung hatten über sich und die anderen. Daraus entwickelte sich automatisch die Dramaturgie des Romans.

Sie sind eine Autorin, die sich oft aus einem autobiografisch gefütterten Ideenpool bedient. Kennen Sie Rita?

Ich kenne sogar eine Rita in mir selber! Die Romanfigur aber ist in dieser Form nicht echt. Ich speise sie aus Beobachtetem und Erlebtem, doch sie ist fiktionalisiert. Eine wichtige Rolle spielen vielmehr Themen, die mich umtreiben. Dafür finde ich geeignete Figuren und ordne ihnen zu, was ich für den Roman brauche.

Was für eine Figur ist Rita, wenn sie für die Entstehung des Romans so eine Schlüsselposition inne hatte?

Rita ist eine Figur, die eine ganz grosse Bedürftigkeit hat. Rita hat vor allem möglichen Angst; Angst, alleine zu sein, nicht geliebt zu werden, nicht gut genug mit ihrer Umgebung verbunden zu sein. Diese Angst äussert sich oberflächlich betrachtet in ihrem Neid auf andere. Gleichzeitig kennt diesen Wunsch nach Nähe eigentlich jeder. Bei Rita habe ich das auf die Spitze getrieben, um zu verdeutlichen, welche Auswirkung eine solche Bedürftigkeit auf Beziehungen hat. Das heisst nicht, man dürfe dieses Gefühl nicht haben. Mir ist der umgekehrte Blick wichtig: Hinter Neid steckt vielfach eine grosse Bedürftigkeit.

Sie setzen Zuspitzungen und Übertreibungen in „Kampfsterne“ auch an anderen Stellen gezielt ein. Unter anderem dafür, dass solche Botschaften nicht untergehen?

Absolut. Beim Schreiben gehe ich insgesamt sehr zielgerichtet vor und stelle ein mir wichtiges Thema in den Vordergrund. Daran arbeite ich relativ abstrakt. Bei mir gibt es nicht viele äussere Beschreibungen oder das Schwelgen in Räumen oder Situationen. Dadurch konzentriert der Leser sich auf die Problematik ohne grosse Ablenkung.

«Beim Schreiben gehe ich insgesamt sehr zielgerichtet vor und stelle ein mir wichtiges Thema in den Vordergrund.»

Alexa Hennig von Lange, Schriftstellerin (Bild: Marie Häfner)

Sind Sie ähnlich gross geworden wie diese Kinder im Buch?

Zumindest in einer vergleichbaren Siedlung, insofern gibt es eine Parallele. Was im Buch passiert, habe ich de facto nicht erlebt, diese hohe Dramatik und die Vielzahl der Geschehnisse auf so kurzer Distanz. Aber es gab immer Unterströmungen und Stimmungen. Die wiederum sind für mich interessant: Was wäre passiert, wenn die tatsächlich zum Ausbruch gekommen wären?

Könnten Sie wieder in einer Einfamilienhaussiedlung leben? Gut kommt sie ja nicht gerade weg ...

Ich höre häufiger, dass das dem Leser so erscheint. In meinen Augen bringt eine Siedlung doch etwas Schönes mit und ich habe das als Kind und Jugendliche gemocht. Für „Kampfsterne“ ist sie streng genommen nur die Kulisse für zwischenmenschliche Probleme und psychologische Probleme. Das Buch könnte letztlich auch auf dem Land spielen oder in der Grossstadt. Die Menschen empfinden überall ähnlich und haben mit ähnlichen Problemen zu tun. Als Wohnort kann ich mir das vorstellen, aber vielleicht wäre mir eine Siedlung heute etwas zu unbeweglich.

Hat das Jahr 1985, in dem der Roman spielt, auch eine Kulissenfunktion?

Wahrscheinlich könnte man die Geschichte auch vor 500 Jahren ansiedeln, weil sich die inneren Strukturen der Menschen erschütternd wenig geändert haben. Auch heute könnte ich diese Geschichte erzählen. Warum aber 1985? Weil ich da ein Teenager war und noch eine sehr starke emotionale Bindung zu dieser Zeit habe. Im Buch wollte ich die Perspektive der Kinder und der Jugendlichen auf die Erwachsenenwelt so direkt wie möglich erzählen und es half mir, in die Zeit zurückzugehen, in der ich selbst dieses Alter hatte.

Das bringt uns zu einer anderen Romanfigur, einem kleinen Mädchen namens Lexchen. Klingt mit Absicht die Ähnlichkeit zu Alexa mit?

Lexchen ist tatsächlich eine Art Alter Ego für mich als Kind. Lexchen steht für die empfundene Unschuld eines Kindes. Diese Unschuld habe ich auch empfunden und die empfindet jedes Kind. Jedes Kind erfährt dann einen Moment, und man erinnert sich als Erwachsener meistens rückblickend sehr gut daran, in dem die Welt auf einen niedergeht. Vielleicht weil der Lehrer schimpfte, vielleicht weil man aus dem Kindergarten zu spät abgeholt wurde. Dann ist man plötzlich einer Situation hilflos ausgeliefert und das ist in diesem Moment zuviel Last auf den Schultern. Lexchen dient als Erinnerung daran, dass Kinder diese Unschuld in sich tragen. Wird man älter, ist man vermehrt im alltäglichen Stress gefangen oder in Beziehungsproblemen. Das sind Zeiten, in denen man schnell diese Unschuld aus den Augen verliert und das Kind gleich mit.

Welche Erinnerungen verbinden Sie ausserdem mit dieser Zeit?

Als Kind und Jugendliche beobachtete ich, wie meine Eltern zusammenlebten oder die Eltern meiner Freunde. Ich sah, was sie beschäftigte und fragte mich sehr früh, ob ich das für mein eigenes Leben auch so haben möchte. Dieses Beobachten erwachsener Paare hat mich geprägt. Ich denke, dass sie andere Herausforderungen hatten als wir heute. Sie wollten ein freieres Miteinander als ihre Eltern das hatten oder haben konnten. Sie waren Pioniere in vielerlei Hinsicht, was Pädagogik anbelangt, Schulsysteme, Bewertungen. Aber auch was Beziehungen allgemein angeht, denen zum Partner, zur Arbeit, zur Gleichberechtigung, zu den Kindern.

«Der Schmerz, den so ein Leben mit sich führen kann, wenn du mehr möchtest, der war natürlich eigentlich unstillbar.»

Alexa Hennig von Lange, Autorin (Bild: Nikolaj Georgiew)

Die Eltern, die ihre Kinder, grob gerechnet, in den 1980er gross zogen, wären quasi die erste Generation, die überhaupt in dieser Zerrissenheit scheitern konnte, wie „Kampfsterne“ sie schildert?

So ist es. Der Schmerz, den so ein Leben mit sich führen kann, wenn du mehr möchtest, anderes möchtest, der war natürlich eigentlich unstillbar, unbefriedbar.

Das sieht heute anders aus, mit besseren Grundvoraussetzungen?

Es hat sich mit Sicherheit einiges getan. Deshalb wollte ich die inneren Kämpfe dieser Generation miterzählen und daran erinnern, worauf wir heute aufbauen. Das Buch habe ich bewusst meinen Eltern gewidmet, weil ich dankbar dafür bin, dass sie dieses ständige Aushandeln miteinander ausgehalten und durchgezogen haben. Sie führen heute eine andere Beziehung als damals. Davon konnte ich lernen und davon profitiere ich bis heute.

Sie haben selber Kinder, von denen zwei in einem Alter sind, in dem sie sich selbst Gedanken über ihre Beziehungen machen. Sie nehmen Ihre Arbeit dazu wahr. Setzen die Kinder sich damit auseinander?

Da ich zuhause arbeite, sind meine Kinder mit meinem Schreiben aufgewachsen. Sie wissen, dass Bücher rauskommen und wie die Arbeit funktioniert. Meine grosse Tochter ist 20 Jahre alt und liest seit einigen Jahren alle meine Bücher. Ich glaube, sie hat früh gemerkt, was meine zentralen Themen sind: Kindheit, die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern und alles innerhalb von Paarbeziehungen. Privat war das nicht schwer zu merken, ich habe fünf Kinder von drei verschiedenen Vätern und bin zum zweiten Mal verheiratet. Sie hat aber auch gemerkt, dass da eine enorme Progression stattgefunden hat. Diese Lebensthemen finden heute nur noch literarisch statt — zum Glück!

In „Kampfsterne“ herrscht eine grosse Verzweiflung und Vereinsamung, ein fast illusionsloser Blick auf Beziehungen.

Das Buch empfinde ich gar nicht so. Das Ehepaar Ulla und Rainer, Eltern von zwei Mädchen, steckt über fast das ganze Buch in zwei total versprengten Ecken und geht getrennte Wege. Von aussen denkt man, das wird nichts mehr. Aber sie erleben einen Moment, in dem sich das Verhältnis völlig dreht: Sie merken, dass sie sich verurteilt und innerlich aufgegeben hatten, ohne freundlichen Blick füreinander lebten. Mit diesem Ehepaar wollte ich zeigen, dass es immer wieder einen Punkt gibt, an dem man sich wiederfinden kann. Dann, wenn man all die Urteile für einen Moment loslässt und den anderen wieder in seiner ganzen Echtheit wahrnimmt.

Bei den Jugendbüchern gibt es Figuren, die über mehrere Bücher Entwicklungen erleben. Eine davon ist Lelle. Bei ihren Romanen gibt es das nicht. Gab es noch keine Figur, die sie neugierig auf eine Wiederbegegnung machte?

Stimmt, das ist fast so ... in einigen Romanen taucht Lelle in gewisser Weise als erwachsene Frau auf; sie heisst anders, ist aber ähnlich angelegt. Umgekehrt gibt es in den Romanen tatsächlich Figuren, die mir fremd geblieben sind. Das sind Rollen, für die ich die Stimme bis zum Schluss nicht richtig gefunden habe.

«Ich war ungebunden und unabhängig und es war eine schöne Zeit.»

Alexa Hennig von Lange, Autorin, über die Zeit nach ihrem Erfolgs-Debütroman «Relax» 

Ihr Debutroman „Relax“ wurde auf Anhieb ein unglaublicher Erfolg. Damals waren Sie 24 Jahre alt. Was hat das plötzliche Rampenlicht mit Ihnen gemacht?

Für mich persönlich gar nicht viel, ausser, dass ich sehr viel zu tun hatte. Ich war auf vielen Lesungen, gab Interviews und war viel unterwegs. Mir half eine Haltung, die ich zu Hause gelernt hatte: Man arbeitet Termine diszipliniert ab, ist verlässlich, erscheint pünktlich und erbringt seine Leistung auf hohem Niveau. Schliesslich wird man dafür bezahlt. Es war schwierig, alles im Blick zu behalten, machte aber auch Spass. Ich war ungebunden und unabhängig und es war eine schöne Zeit.

Die Literaturwelt ordnete den Roman der Popliteratur zu. Wie haben Sie diese Gruppierung aufgenommen?

Ich glaube, es herrschte eine Art literarischer Stimmung. Es gab literarische Einflüsse, auf die man sich als junger Mensch bezog und so kam es wohl, dass plötzlich mehrere Bücher erschienen, die sehr subjektiv erzählt waren und dem so genannten „stream of conciousness“ beziehungsweise Bewusstseinsstrom folgten. Die Bücher passten schlicht von der Erzähltechnik her zusammen. Hätte es diese externe Zuordnung nicht gegeben, hätte trotzdem jeder genau diese Dinge geschrieben. Wir traten natürlich auf gemeinsamen Lesungen auf. Aber jeder Einzelne blieb unabhängig in seinem Tun, gerade weil es so subjektiv und etwas so Eigenes war. Andererseits fingen Verlage an, nach subjektiver Literatur junger Leute zu suchen und daraus eine breitere Bewegung zu machen.

Was machen sie mit Buchkritiken? Wie nehmen Sie die auf?

Ich kenne natürlich nicht alle, aber sie interessieren mich. Für mich ist es sehr sehr hilfreich, einen Blick von aussen zu bekommen und zu sehen, wie meine Texte gelesen werden. Daraus lerne ich. Ich will mich nicht in Kritiken bestätigt sehen, auch, wenn das erfreulich ist. Es gibt auch Kritiken bei denen ich das Ziel meines Romans missverstanden sehe. Dann muss ich mich aber fragen, warum das so ist. Ist es Mutwilligkeit oder habe ich einfach nicht so deutlich herausgearbeitet, was ich sagen wollte?  

Das Schreiben als lebenslanger Lernprozess.

Total. Absolut!
 
Termin: Alexa Hennig von Lange liest  am Donnerstag 4. Juli, 20 Uhr im Bodmanhaus, Gottlieben
Moderation: Marianne Sax

Der Roman «Kampfsterne» und seine Autorin

Kampfsterne
224 Seiten, erschienen 2018 bei DuMont Buchverlag, Köln
ISBN 978-3-8321-9774-2

 

Zum Inhalt: 1985 – Es ist ein verrückter, heisser Sommer, in dem Boris Becker Wimbledon gewinnt, vier Passagierflugzeuge innerhalb eines Monats abstürzen, alle grossen Rockstars bei Life Aid für das hungernde Afrika singen und in einer Siedlung am Rand der Stadt drei Familien zu zerbrechen drohen. Ulla und Rainer. Rita und Georg. Ella und Bernhard. Drei Paare. Mütter und Väter. Sie wohnen in dänischem Design, fahren nach Südfrankreich in den Urlaub, schicken ihre Kinder zum Cello-Unterricht und zum Intelligenztest. Sie versuchen, sich als aufgeklärte und interessierte Menschen zu beweisen, die das richtige Leben führen. Wo wäre das leichter als in den sorgenfreien Achtzigerjahren der Bundesrepublik? Und warum funktioniert es trotzdem nicht? Alexa Hennig von Lange erzählt die Geschichte einer Generation von Eltern, die ein freieres Miteinander wollten. Der Ideologien, denen sie folgten. Der Liebe, die sie verband. Der Ängste, die sie hatten. Der Kindheit, die sie sich für ihre Söhne und Töchter wünschten. Der Fehler, die sie machten. Der Entschlüsse, die ihre Kinder deshalb fassten.

 

Eine Leseprobe aus dem Roman gibt es hier.

Die Autorin: Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman „Relax“ 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet für „Ich habe einfach Glück“.

Video: Bernhard Aichner & Alexa Hennig von Lange in «Lesart» (ORF 2)


 

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