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von Karsten Redmann, 16.01.2023

Ein Feuerwerk auf kleinstem Raum

Ein Feuerwerk auf kleinstem Raum
Liest am 16. Januar in Frauenfeld: Die vielfach ausgezeichnete Autorin Katerina Poladjan. | © Andreas Labes

Die Autorin und frühere Schauspielerin Katerina Poladjan liest am 16. Januar im Bücherladen Marianne Sax aus ihrem Anfang 2022 erschienen und vielfach preisgekrönten Roman „Zukunftsmusik“. (Lesedauer: ca. 3 Minuten)

„Das [Buch] ist reines Literaturkokain“, lobt der Kritiker Denis Scheck, bekannt aus diversen Literatursendungen im Deutschen Fernsehen, den mittlerweile vierten Roman der Schriftstellerin Katerina Poladjan. Und weil der Satz so griffig ist und so flott über die Lippen kommt, hat er es auf den wunderbar gestalteten Buchrücken des bei S. Fischer erschienen Romans geschafft.

In der Zwischenzeit ist „Zukunftsmusik“ mit dem renommierten Chamisso-Preis und dem Rheingau Literaturpreis ausgezeichnet worden. Für die 1971 in Moskau geborene Schriftstellerin sind derartige Preise und Förderungen mittlerweile die Regel geworden, seitdem sie im Jahr 2011 mit ihrem bei Rowohlt verlegten Roman „In einer Nacht, woanders“ debütierte.

Aus privilegierten Verhältnissen

Katerina Poladjan stammt, wie sie selbst sagt, aus eher privilegierten Familienverhältnissen: Ihre Grossmutter arbeitete in der Sowjetunion bei der Raumfahrt, ihre Mutter ist studierte Kunsthistorikerin und Journalistin, der Vater international anerkannter Künstler. Im Jahr 1979 verliess die Familie Moskau und wanderte nach West-Berlin aus.

Nach dem Erlernen der deutschen Sprache und dem Besuch des Gymnasiums, studierte Poladjan Angewandte Kulturwissenschaften in Lüneburg und machte später eine Ausbildung zur Schauspielerin in München. Rollen in diversen Filmproduktionen folgten, zuletzt in der Buchverfilmung „Tschick“ des Regisseurs Fatih Akin aus dem Jahr 2016.

 

Katerina Poladjan. Bild: Von Amrei-Marie - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=122476827

Zwischen Ernsthaftigkeit und Spiel

Ist der neue Roman Poladjans wirklich so gut wie die literarische Öffentlichkeit zu meinen glaubt? In gewisser Weise ja. Zwar ist er nicht gerade der Jahrhundertroman, oder das beste Buch des letzten Jahres, aber doch sicher eines, das man gerne weiterempfehlen will und dessen Machart durch sanfte Ironie, Humor und einer feinen Pendelbewegung zwischen Ernsthaftigkeit und Spiel gekennzeichnet ist.

Aufgeteilt in 21 kurze Kapitel, erzählt Katerina Poladjan die Geschichte mehrerer Bewohner:innen einer Gemeinschaftsunterkunft, Kommunalka genannt, im Osten der Sowjetunion, an nur einem Tag im März - genauer: dem 11. März 1985; also dem Tag, an dem der Trauermarsch von Chopin im Radio gespielt wird, was als eindeutiges Zeichen gesehen werden kann, dass ein hohes Mitglied des Politbüros in Moskau verstorben ist.

Die Leser:innen wissen mehr

Dadurch, dass der Roman in der Vergangenheit angesiedelt ist, verfügt der Leser, die Leserin heute, über deutlich mehr Informationen als die Figuren im Text selbst. Dieses Wissen um den historischen Wendepunkt mit dem Tod des Generalsekretärs Konstantin Ustinowitsch Tschernenko und der Wahl von Gorbatschow am 11. März 1985, ermöglicht eine besonders reizvolle Lesart der Geschichte.

In besagter Kommunalka, weit weg von Moskau, leben die unterschiedlichsten Menschen auf engem Raum, teilen sich Küche und WC, und verfügen privat über nur wenige Quadratmeter Wohnfläche. Es ist eine Notgemeinschaft aus sechs Parteien, die hier zusammenkommt. In einem der kleinen Zimmer versuchen sogar vier Generationen von Frauen ihr eng gefügtes Zusammenleben zu organisieren - es sind die Grossmutter Warwara, die Mutter Maria, die Tochter Janka und die Enkelin Kroschka.

Ein Sog aus Geschehnissen

Im Roman folgt man ihren jeweiligen Träumen und Sorgen, nimmt Teil an ihren Leben und denen der anderen Mitbewohner:innen. Dabei gerät man mehr und mehr in einen Sog aus allerlei Geschehnissen, die Handlung wird eng geführt und die besondere Zeit und ihre Umstände greifbar und fühlbar. In einem kürzlich geführten Radiointerview beschreibt Katerina Poladjan ihr Interesse am Leben in einer solchen Kommunalka:

„Was mich interessiert hat, ist dieser Ort, also diese Kommunalka als Experimentierfeld für so grosse existenzielle Fragen, also die Fragen nach der Freiheit, überhaupt die Fragen nach Raum, im abstrakten, aber auch ganz konkret: Wie viel Raum brauche ich? Wie viel Freiheit brauche ich? Habe ich einen Anspruch auf irgendeine Art von Freiheit? Fragen nach Nähe und Distanz … 30, 40 Menschen auf engem Raum, die konnten sich nicht aus dem Weg gehen. Die haben sich alle im Gehirn gewühlt. Haben sich alle gegenseitig kontrolliert. Wie kann man da in Würde überleben?“

Das erste Kapitel beginnt atmosphärisch. Der Ort der Handlung wird bereits deutlich vor Augen geführt:

Video: Ulrich Noethen liest hier den Beginn des Romans (5 Min.):

Neben der dichten Atmosphäre und der fein eingewobenen Melancholie ist auch die im Buch angewendete Schnitttechnik bemerkenswert: der Autorin gelingen elegante Übergänge von der erzählten Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück - so lesen wir erst von einer Szene in der Badewanne, um kurz danach dem Auftauchen der Figur in einem Fluss beizuwohnen. Das Element bleibt gleich, aber wir sind von einem Satz zum nächsten in einer neuen Welt.

Das ist sehr gekonnt gemacht. Zudem sind die Dialoge, und es kommen zahlreiche Dialoge im Buch vor, sehr klug umgesetzt, die Psychologie der Figuren greift stets, und zwischen den Zeilen schwingt so einiges mit. Dabei ist das Buch gerade einmal 192 luftig gesetzte Seiten lang.  

Rückgriff auf ein reales Vorbild

Sämtliche Figuren dieser spannenden Erzählanlage sind Opfer ihrer inneren und äusseren Zustände; Janka auf eine andere Art als beispielsweise ihre Mutter. Im Interview legt Poladjan zudem offen, dass zwar alles, was sie erzählt, erfunden ist, sie bei der Figur der aufsässigen Janka aber auf ein reales Vorbild zurückgreifen konnte: auf eine mit 23 Jahren verstorbene russische Punksängerin, die anarchische und wilde Lieder gesungen haben soll.        

Der Roman „Zukunftsmusik“ ist Experiment und Spiel zugleich. An einigen Stellen, vor allem im hinteren Teil, arten Szenen regelrecht aus, gleiten ins Phantastische und Skurrile. So entdecken wir mit einer der Figuren ein Loch in der Decke eines Zimmers, das den offenen blauen Himmel zeigt. Gekoppelt ist dieses Bild an das Verschwinden des dort bisher wohnenden Professors.

Erinnerungen an Proust

Nicht zuletzt weist der Roman, gerade im hinteren Drittel, zahlreiche Referenzen auf die bildende Kunst und die russische Literatur, insbesondere Tschechow, auf. Katerina Poladjan bringt hier sogar direkte Zitate des russischen Dramatikers.

Das liest sich alles in allem flüssig und lustvoll verspielt; mit vielen kleinen Verweisen. Und so überrascht es einen am Ende auch nicht, wenn man sich an einer Stelle des Textes - es geht dabei um den nachhaltigen Geruch verkosteter Pfefferminzbonbons - an die bekannte Madeleine-Szene bei Marcel Proust erinnert fühlt. Fazit: Dieser Roman ist ein Feuerwerk auf kleinstem Raum.             

 

Lesung und Gespräch

Montag, 16. Januar 2023; Beginn: 19.30; Ort: Bücherladen Marianne Sax, Frauenfeld; Preis: CHF 15 / Mitglieder und Studis CHF 10. Moderation: SRF-Literaturredaktor Felix Münger.

 

 

 

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