von Karsten Redmann, 04.10.2022
Schreiben und lieben
„Schreibende Paare“ heisst eine aktuelle Veranstaltungsreihe im Literaturhaus Thurgau: Am 6. Oktober ist das Schriftsteller:innenpaar Julia Weber und Heinz Helle zu Gast und erklärt wie sie Kunst und Leben vereinbaren. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Bereits bei einem kurzen Blick über die Schulter, zurück in die Literaturgeschichte, findet man sie schnell – ob in Frankreich mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, in Österreich mit Erich Jandl und Friederike Mayröcker, oder in den USA mit Sylvia Plath und Ted Hughes. Alle Genannten lebten als schreibende Paare zusammen, lasen sich gegenseitig vor, kritisierten die Texte des oder der anderen, teilten mitunter aufkommende Erfolge aber auch Misserfolge.
Und auch heutzutage ist es nicht gerade ungewöhnlich, im Literaturbetrieb auf Paare zu stossen, die beruflich Schreibende sind - bekanntere Beispiele sind Paul Auster und Siri Hustvedt sowie die zurzeit in Hohenems und Wien beheimateten Autor:innen Monika Helfer und Michael Köhlmeier.
Ein ganz gewöhnliches Leben?
Eine eben solche Gemeinsamkeit leben auch die Schweizer Schriftstellerin Julia Weber und der in Deutschland aufgewachsene Autor Heinz Helle: Beide sind seit Jahren ein Paar, gehen ihren jeweiligen Schreibprojekten nach – bei Helle sind mittlerweile vier Romane und bei Weber zwei Bücher entstanden - und teilen sich Haushalt und Kindererziehung. Ein ganz gewöhnliches Leben, zumindest könnte man das meinen.
Und zum Teil ist das sicher auch so – man kauft ein, kocht, sorgt für die Kinder, kümmert sich um all die anfallende Care-Arbeit. Aber das Leben und Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern kennt andere Abläufe, hat andere Notwendigkeiten. Um kreativ sein zu können, braucht es entsprechende Freiräume. Wie also Kunst und Leben miteinander vereinbaren? Über diese Frage, und viele daran anknüpfende Fragen, denken Julia Weber und Heinz Helle in ihren aktuellen Büchern nach.
Die Notwendigkeiten des Künstler:innen-Lebens
Das im Frühling bei Limmat veröffentlichte zweite Buch von Julia Weber arbeitet sich an den Herausforderungen von Elternschaft und Künstlerinnensein ab. Die Erzählerin zeigt darin offenkundig ihre Ängste und Sorgen bezüglich einer zweiten Schwangerschaft.
In dem 350 Seiten umfassenden Buch vermengen sich fiktionale wie nicht-fiktionale Teile, so dass der Titel „Die Vermengung“ den Inhalt sehr gut spiegelt. Bereits auf der ersten Seite weist der Text auf tieferliegende Ängste der Erzählerin hin, und setzt den literarischen Ton:
„In der Nacht, wenn das Kind schläft und ich nicht schlafen kann, weil ich Angst habe, es könnte aufhören zu atmen, schreibe ich.“
Wenn die Werke miteinander sprechen
Als Erwiderung oder auch perspektivische Ergänzung kam Mitte September Heinz Helles autofiktionales Werk mit dem Titel „Wellen“ in die Buchhandlungen, ein Roman über einen Mann, der sich stets für einen sanftmütigen und liebenden Vater und Ehemann gehalten hat, bis er merkt, dass in ihm ein ganz ähnliches Potenzial an Wut schlummert wie in den frauenfeindlichen und unreflektierten Männern, die er vom Grund her verabscheut. In einem von Helles ausufernden Sätzen findet sich so auch folgende Formulierung:
„Und ich nehme mir vor, nie wieder wütend zu sein, weil sie [das Baby] weint, und ich frage mich, wie oft ich mir das schon vorgenommen habe und wieso ich überhaupt wütend werde, wenn sie weint, und ich will sie in den Arm nehmen, aber sie will nicht.“
Sie teilen sich die Care-Arbeit auf
Näher kennengelernt haben sich die 39-Jährige ausgebildete Fotofachangstellte und der 44-jährige studierte Philosoph vor über einem Jahrzehnt in Biel, als sie im selben Jahr das Studium des Literarischen Schreibens am Schweizer Literaturinstitut aufnahmen und sich nach einer gemeinsamen Schreibwoche im Winter 2011 so sehr ineinander verliebten, dass sie kurz darauf beschlossen, als Paar zusammenzuleben. Wenig später wird Julia Weber schwanger.
Das erste Kind wird geboren und Heinz Helle veröffentlicht zwei Jahre nach Abschluss des Studiums seinen ersten Roman mit dem Titel „Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin“. Drei Jahre später, im Jahr 2017, folgt mit „Immer ist alles schön“ das erste Buch Julia Webers. Mittlerweile leben Helle und Weber mit ihren zwei Töchtern in ihrer Wahlheimat Zürich. Seit der Geburt des zweiten Kindes verantworten sie die Care-Arbeit zu gleichen Teilen.
Schreibkrisen in der Pandemie
Es ist erstaunlich, welche Parallelen beider Autor:innenleben aufzeigen: Zum einen das gemeinsame Studium, die Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Preis, die vielen Auszeichnungen, Werkbeiträge und Preise, aber auch die Schreibkrisen, von denen beide geradezu zeitgleich - im zweiten Jahr der Pandemie - heimgesucht wurden.
Und auch Helles aktuelles Werk weist etliche narrative Querverbindungen zum Buch seiner Frau auf. Die Verbindungen bestehen unter anderem darin, dass beide mit dem gleichen Figurenensemble operieren: mit B, Z und A etwa; so stehen die Kürzel B und Z für die Töchter, und A und weitere Namenskürzel für Freundinnen und Freunde. In Webers Buch kommt zudem ein gewisser H vor - ein deutlicher Hinweis auf ihren Mann Heinz Helle. In „Die Vermengung“ heisst es:
„H. sitzt in seinem dunkelgrauen Bademantel in der Küche vor dem Computer und sucht nach Häusern im Süden von Schweden … am liebsten direkt am Meer, ruft er, das Haus, sodass das Brechen der Wellen hörbar ist.“
Diese schwingenden Sätze können direkt verschaltet werden mit folgender Stelle aus Helles „Wellen“:
„ … und wieso wünsche ich mir ein Haus am Meer in Schweden, in dem ein Tisch steht, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich dann dort schreiben soll ...“
Ins Private hinein – und wieder hinaus
Melancholie und Verunsicherung sind in beiden Büchern fester Bestandteil des Erzählens. Im besten Sinne legen beide Autor:innen mit dieser Art des sich selbst befragenden Schreibens und Denkens Fährten, führen die geneigte Leserschaft ins Private hinein und aus dem Privaten hinaus. Für Heinz Helle verlief dieser Weg hin zum autofiktionalen Schreiben aber alles andere als planvoll. In einem kürzlich ausgestrahlten Radiointerview meinte er dazu:
„Es ist eine Entwicklung, die von selbst in Gang gekommen ist. Möglicherweise hängt das damit zusammen, wie ich meine Bücher finde, meine Sprache suche. Und vor dem vierten Roman `Wellen` ist einiges passiert in meinem Leben, was eine genauere Betrachtung und Hinterfragung erfordert hat. Und ich erkläre mir das so, dass darum auch die Arbeit näher an mich selbst gerückt ist.“
Im Literaturhaus Thurgau werden Julia Weber und Heinz Helle am 6. Oktober aus ihren Büchern lesen und mit den Moderator: innen Gallus Frei-Tomic und Cornelia Mechler über die mitunter schwierige Vereinbarkeit von Elternschaft und eigenem Kunstschaffen diskutieren.
Die Lesung & die Bücher
Datum: Donnerstag, 6. Oktober 2022
Uhrzeit: 19:30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Über die Bücher:
Heinz Helle: Wellen. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 284 Seiten, 34,90 Franken.
Julia Weber: Die Vermengung. Limmat Verlag, Zürich 2022. 352 Seiten, 30 Franken.
Von Karsten Redmann
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