von Karsten Redmann, 29.11.2022
Ins Risiko gehen
Die 1992 in Münsterlingen geborene Autorin Anja Schmitter schreibt Fiktion und literarische Reportagen. Diesen Herbst erschien ihr Romandebüt mit dem Titel „Leoparda“ im Basler Lenos Verlag. Das skurril und fantastisch anmutende Werk handelt von der Verwandlung einer jungen Frau in – klimatisch bedingt - unsicheren Zeiten. (Lesedauer: ca. 4 Minuten)
Es ist stark davon auszugehen, dass mit dem 20. September diesen Jahres, die Welt der Schriftstellerin Anja Schmitter eine im Ansatz andere geworden ist. Denn seit diesem Tag ist ihr literarisches Debüt auf dem Markt, liegt in Buchhandlungen aus, wird im Radio, in Zeitungen und Magazinen besprochen, und von ihr selbst in Lesungen vorgestellt – wie zum Beispiel in der Reihe der „Langen Nacht der Debüts“ im Literaturhaus Zürich (ab Stunde 1:45:30).
Einen Roman zu schreiben, insbesondere den ersten, und damit ins Risiko zu gehen, weil alles neu und ungewohnt, ist eine Herausforderung der besonderen Art. Nicht zuletzt, wenn der Text am Ende dann auch in Buchform erscheint, man ihn loslassen muss und keinen Einfluss mehr auf die Rezeption hat.
Die Besonderheiten eines Debütromans
Anja Schmitters Debüt ist auch ein solches Ins-Risiko-gehen. Und das macht das Buch von Anfang an, es wagt viel und setzt einiges aufs Spiel. Ungestüm kommt es daher, ist wild und unberechenbar. Schnell gewinnt man den Eindruck, dass es mehr sein will, als es in Wirklichkeit ist. Wobei der erste Satz im Roman ein klassischer, atmosphärischer Einstieg ist:
„Über dem Lochergut kreisten Möwen.“
Was auf den nächsten Seiten folgt, ist eine filmisch erzählte Geschichte von Kleoparda Frei, einer 25-jährigen Lehrerin aus Zürich, deren Leben allmählich aus den Fugen gerät. Anfänglich wirkt die Geschichte eher gesetzt, fast bieder, handelt vom eher gewöhnlichen Alltag einer jungen Frau in der Grossstadt.
Erstaunlich unspezifisch und klischiert
Schmitters Verlag lobt vor allem die „originellen Bilder“, die von der Autorin kreiert werden, was ein wenig wundert, denn abgesehen von einigen wenigen überzeugenden Bildern, wirkt die erzählte Romanwelt erstaunlich unspezifisch und klischiert.
Gegliedert ist das Buch in vier Teile mit den Überschriften: „Die Liebe“, „Die Hitze“, „Die Reise“, Die Hoffnung“. Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als ein halbes Jahr. Bereits in den Anfangsszenen wird das Beziehungsgeflecht zwischen Tochter, Eltern und Freund offengelegt. Auch wird der eher ungewöhnliche Name der Hauptprotagonistin in einer Sequenz eingehend erläutert:
„Auf dem Foto waren der Vater und die Mutter auf ihrer Hochzeitsreise zu sehen, beide strahlen vor Glück und Jugend. Im Hintergrund ragte eine Pyramide ins orange Abendlicht. Deswegen heisst du Kleoparda, hatte die Mutter Kleo als Kind häufig erklärt und mit dem Finger auf die Pyramide gezeigt. Ähnlich wie die ägyptische Königin. Ähnlich, mein Schatz, aber nicht gleich. Du heisst auch wie der Leopard, das war die Idee vom Papa. Denn du bist was Besonderes, mein Schatz.“
Bocksprünge und Wunderlichkeiten
Im weiteren Verlauf der Handlung gibt es zahlreiche dramaturgische Bocksprünge und Wunderlichkeiten: Die Beziehung zwischen Ernst und Kleo geht in die Brüche; eine Amaryllis führt ein höchst seltsames Eigenleben - wird zum Ausdruck und Motiv katastrophaler Veränderungen; ein sogenannter Fuckboy tritt in Erscheinung; Katzenfutterdosen werden Kleo vor die Tür gestellt; die Nachbarin stirbt; ein junger Mann aus Afghanistan wird übergriffig; die Protagonistin entführt aus dem Zoo einen halbtoten Pinguin.
Die Hauptfigur wird zur feministischen Social-Media-Ikone und verwandelt sich mehr und mehr in ein Raubtier, nennt sich Leoparda und schleicht nachts in ihrer Wohnung umher, trägt immerzu ein Samtkleid mit Leopardenmuster und ebenso gefärbte Haare, erschreckt die Kinder aus ihrer Klasse, frisst Katzenfutter, kündigt den Job als Lehrerin, lebt schliesslich auf der Strasse. Sie wird von ihren Followern für ihren Eigensinn gefeiert, und landet am Ende - fast ausgehungert - in einem heruntergekommenen Stall mit einem verwesenden Rind und einem halbtoten Esel.
Zwischen Realität und Imagination
Der Text mäandert zwischen Realität und Imagination, bespielt den Raum in einer dystopisch anmutenden Welt. Anja Schmitter setzt von Beginn an einen bestimmten Ton: Dieser wirkt mitunter unbeholfen und ungelenk, immer wieder angereichert mit umgangssprachlicher Ausdrucksweise wie etwa „knuffen“ oder „brunchen“. An einer Stelle charakterisiert sie eine Figur folgendermassen:
„Die Nasenlöcher blähten sich empört.“
Ähnlich hier:
„Er hielt inne und lachte, seine perfekte Zahnreihe leuchtete weisser als die Sonne.“
Über die sommerliche Hitze im Klassenraum heisst es an anderer Stelle:
„Die Luft war glühend, dickflüssig, Lava.“
Begrenztes sprachliches Repertoire
Auch wird ständig gelächelt und gelacht, gekichert und gegrinst - das sprachliche Repertoire scheint wenig mehr an emotionalen Ausdrücken hergeben zu wollen. Ausnahmen sind hier emotionale Ausbrüche in die andere Richtung, wenn Wut und Hass heraufbeschworen werden; wie zum Beispiel in der Szene mit Ernst, dem Freund der Protagonistin, wo Kleoparda, genannt Kleo, den Freund mit einer anderen Frau im Bett erwischt:
„Du bist so ein Arschloch! So ein verficktes Arschloch!“
Und ein paar Zeilen weiter:
„Du Arsch!, schrie sie nach oben, und das war das Ende der offenen Beziehung.“
Keine Identifikationsfigur weit und breit
Abgesehen davon, dass hier immer wieder der gleiche Kraftausdruck Verwendung findet, wird es einem über die gesamte Strecke des Buches geradezu unmöglich gemacht sich wirklich einzufühlen in Figuren und Handlung. Begriffe wie „Baby“, „Schatzi“, „Alter“, „Süsse“, „Pussy“, „Lady“ und „Boy“ machen die Lektüre zu einem literarischen Tretminenlauf. Selbst die Dialoge wirken zumeist künstlich und aufgesetzt:
„Hey Ernst, sagte sie, ohne den Blick zu heben, lass uns das Ganze nicht zu eng sehen. / Was denn, fragte er. / Sie hob den Löffel. Die kleinen Haferflocken trieben weiter im Kreis. / Das mit der Beziehung. / Ach so. / Er griff zur Kanne und goss sich Kaffee nach. / Willst du auch? / Sie schüttelte den Kopf. Dann schaute sie in sein Gesicht. Er lachte sie liebevoll an, seine Zahnstellung war perfekt. / Ich bin jung, sagte Kleo, weisst du. Ich brauche mehr Abwechslung. / Ernst war fünf Jahre älter, schon dreissig, und verstand das Problem gut. / Können wir machen, meinte er.“
Ein skurriler Roman mit Schwächen
Die schweizweit bekannte Schriftstellerin Ruth Schweikert attestiert der Debütantin Schmitter wohlmeinend eine „hellwache“ und mit „beissender Tiefenschärfe“ ausgestattete Erzählweise. Und dass ihr Roman als „Utopie und Dystopie zugleich“ uns [den Leserinnen und Lesern] den Spiegel vorhält.“
Nach der kritischen Lektüre dieses Erstlings müssen solche Zuschreibungen erst einmal verarbeitet werden; zwar ist der vorliegende Prosatext ein wirklich skurril und fantastischer Roman, aber nicht im durchweg positiven Sinne. Dafür weist er allzu viele eklatante Schwächen auf.
Dramaturgisch endet der Text analog zu einer Heiligengeschichte: Ausserhalb des Stalls mit dem Verwesungsgeruch in der Luft und den mittlerweile toten Tieren sind laute Stimmen zu hören. Die ausgehungerte Protagonistin tritt mit letzter Kraft ins Freie. Schmitter beschreibt die Szene so:
Mit letzter Kraft ins Freie
„Draussen war Nacht, doch ein grosser Stern stand über der Scheune und tauchte die Landschaft in einen goldenen Schein.“
Schliesslich folgt der symbolischen Aufladung eine finale Rettung der Romanheldin durch ihre Follower. Und so lautet der letzte Satz:
„Und sie sah: Die Fans, die sie gerufen hatte, waren gekommen.“
Das Buch & die Autorin
Buch: Anja Schmitter, Leoparda, 226 Seiten, Lenos Verlag, Fr. 26.50
Nach ihrem Studium arbeitete Anja Schmitter als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich sowie als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Am Schweizer Literaturinstitut in Biel hat sie zudem den Master im Literarischen Schreiben absolviert. Für das Magazin „Reportagen“ schreibt sie hin und wieder Artikel.
Von Karsten Redmann
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