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von Julia Christiane Hanauer, 16.11.2021

Gefährliche Liebschaft

Gefährliche Liebschaft
Jürg A. Meier (rechts) erläutert Peter Bretscher, Leiter des Schaudepots Sankt Katharinental, zugehörig zum Historischen Museum Thurgau, anhand einer Radbüchse den komplexen Mechanismus des Thurgauer Radschlosses. | © Julia Hanauer

Ein Historiker stöbert in einem Museum auf dem Estrich. In einem kleinen Raum macht er eine Entdeckung, von der jeder Historiker träumt. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)

Es sei wie im Film gewesen, erinnert sich der Zürcher Historiker Jürg A. Meier an seinen Fund im Museum Rosenegg in Kreuzlingen. Es war das Jahr 2006, die damalige Museumsleitung hatte beschlossen, die Waffensammlung zu liquidieren. Sie hatte Meier, Spezialist für Militär- und Waffengeschichte, für die Inventarisierung und Katalogisierung dieser Sammlung hinzugezogen.

Der kleine Raum habe ausgesehen wie wenn jemand alles liegen und stehen gelassen habe, erinnert er sich. Spinnweben hingen von der Decke herab, ein Werktisch voller Gegenstände, die mit Staub überzogen waren, befand sich darin.

Und zwischen Schrauben und vielen anderen Dingen findet der Historiker schliesslich dieses schmiedeeiserne Gebilde, das heute unter dem Namen Thurgauer Radschloss bekannt ist und einst Teil einer Radbüchse war. „Für mich war das ein Aha-Moment“, sagt Meier. „Mir war sofort klar, was ich da gefunden hatte. Es war etwas Frühes und Seltenes.“

Lange lag es vergessen und seines historischen Wertes unerkannt auf dem Estrich des Museums Rosenegg: das Thurgauer Radschloss. Bild: Historisches Musuem Thurgau

 

„Mir war sofort klar, was ich da gefunden hatte. Es war etwas Frühes und Seltenes.“

Jürg A. Meier, Historiker

Einordnen konnte er den Fund damals nicht gleich, inzwischen ist dokumentiert: Bei dem Thurgauer Radschloss handelt es sich „um ein frühes ‚offenes‘ Radschloss“ oberdeutschen Ursprungs“, schreibt Wilfried E. Tittmann in seiner Dissertation „Die Nürnberger Handfeuerwaffen vom Spätmittelalter bis zum Frühbarock“. „Die Schlosser […] müssen folglich in Nürnberg oder Augsburg gesessen sein oder zumindest dort gelernt und gearbeitet haben.“ Datiert wird sie auf 1510 - 1520.

Thurgauer Radschloss besteht aus 36 Einzelteilen

Das Besondere an dem Thurgauer Radschloss ist, dass es ein Zeuge seiner Zeit ist. Der Einsatz des Minerals Pyrit in den Radschlössern revolutionierte um 1500 die Handfeuerwaffen. Mechanische Reibung sorgte dafür, dass am Pyrit der nötige Funkenwurf entstand. Brennende Lunten, wie sie zuvor verwendet worden waren, waren damit Geschichte.

„Die Schlosser waren Präzisionsmechaniker“ sagt Meier. Das zeige auch die Rekonstruktion des Thurgauer Radschlosses, die der Waffenmeister Günther Gropp, spezialisiert auf Nachbildungen historischer Waffen, 2009 vornahm.

„Allein 36 Einzelteile [mussten] angefertigt und zusammengebaut werden, die erst nach Einpassung und probeweiser Montage gehärtet werden durften, damit der Mechanismus möglichst reibungslos arbeitete“, heisst es dazu bei Tittmann.

Der Fundort: Auf dem Estrich des Museums Rosenegg in Kreuzlingen macht der Historiker Jürg A. Meier seinen Sensationsfund. Bild: Thomas Meier-Löpfe

Kaufmannssohn schiesst Prostituierte mit Radbüchse an

Doch wie gelangte dieses seltene Stück, dazu noch aus dem Bayerischen, auf den Estrich des Museums Rosenegg? Die Antwort sei vorweggenommen: Dieses Rätsel liess sich nur zum Teil lösen, doch bei seinen Recherchen zur Einordnung des Radschlosses stiess Meier auf eine ausgesprochen spannende Geschichte, in der zwar nicht die von Meier gefundene Waffe eine Rolle spielte, sie sich aber dennoch mit dem Modell der Thurgauer Radschloss in Verbindung setzen lässt. Schliesslich erklärt sie doch sehr anschaulich, wie sensibel der Mechanismus solch einer Waffe zu dieser Zeit war.

Diese Geschichte ist aus Wilhelm Rems „Cronica newer Geschichten“ (1512- 1527) und spielt in Konstanz im Jahre 1515. „Die Stadt war damals eine Destination für das schöne Leben am Bodensee“ sagt Jürg A. Meier. Lukas Pfister, Sohn einer wohlhabenden Augsburger Kaufmanns- und Patrizierfamilie, residierte in Kostnitz, wie Konstanz zu dieser Zeit hiess, und hatte sich „ain gutte diernen geladen“, ist bei Rem zu lesen. Was daraufhin passiert, ist auch für die Waffengeschichte von grossem Interesse.

Imponiergehabe, das nach hinten losgeht?

Als nun also Lukas Pfister mit der Prostituierten im Zimmer ist, „dentlet er mit der büchsen umb und truckt den zinder aus“. Meier vermutet, dass der Augsburger der Frau mit der Waffe eventuell imponieren wollte, schliesslich war solch eine Radbüchse sehr teuer.

„Es ist ein anfälliges System“, erläutert Meier. Sei der Zünder gespannt, könne man zwar eine Sicherung einlegen, aber wenn diese nicht verwendet würde, könne die Büchse auch schnell losgehen, ohne dass man es beabsichtige oder aktiv den Abzug bediene. Auch eine Erschütterung habe die Waffe auslösen können.

Wie es auch war, Pfister „schos die dirnen durch den kien, dass die kugel hienden zu dem nack ausgieng.“ Für den Historiker Meier ist die Dokumentation des Wilhelm Rem von besonderer Bedeutung, denn es sei der erste dokumentierte Schiessunfall mit einem Radschlosssystem – weltweit.

Frau erhält Entschädigung und Leibrente

Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Denn der Schuss war nicht tödlich, die Frau trug aber sicherlich erhebliche Verletzungen davon. Es kam zum Gerichtsverfahren, bei dem der Augsburger laut der Chronik zu einer Entschädigung in Höhe von 40 Gulden sowie 37 Gulden für die Arztrechnung und nochmals 40 Gulden für weitere Ausgaben verurteilt wurde.

Alleine das entsprach zu dieser Zeit einer enormen Summe, obendrauf kamen nochmals 20 Gulden für eine Leibrente, die Pfister der Frau jährlich zahlen musste. Er könne sich nicht erinnern, dass er schon einmal gehört habe, dass in der damaligen Zeit zuvor eine Frau entschädigt worden sei, sagt Meier.

Was letzten Endes mit der Tatwaffe passierte, ist unklar, der Historiker kann sich vorstellen, dass Lukas Pfister sie aufgrund ihres Wertes nicht herausgegeben hat, zumal er viel Geld an die Frau zahlen musste.

„Thurgauer Radschloss ist Sensation seiner Zeit“

Jürg A. Meier, Historiker & Waffenexperte

Abgesehen von seiner Herkunft aus Augsburg oder Nürnberg ist die Geschichte des Thurgauer Radschlosses in seiner Vollständigkeit als Radbüchse nicht bekannt, sie scheine jedoch länger verwendet worden zu sein, sagt Jürg A. Meier. Dann veraltete das System und „die Waffe wurde ausgeschlachtet – vor allem der Lauf liess sich für eine neue Waffe wieder verwenden.“

Das Radschloss selbst fand eine neue Bestimmung: Es wurde ein Feuerzeug und das lässt sich anhand einer „wenig sachgemässen Reparatur des Hahns mit Kupferlot und die Korrosion der Eisenteile“ belegen, erläutert Meier.

Was man sicher weiss: Ins Museum Rosenegg gelangte das Radschloss durch die teilweise Schenkung sowie den Ankauf der Sammlung von Otto Foerster, einem Landwirt und Fuhrhalter aus dem Thurgauer Schwaderloh. Ins Museum gelangten vor allem Waffen „die er in unserer Gegend und auf dem Seerücken sammelte“, so ist es in einem Artikel der Thurgauer Zeitung vom 4. Januar 1940 vermerkt.

Jürg A. Meier (rechts) erläutert Peter Bretscher, Leiter des Schaudepots Sankt Katharinental, zugehörig zum Historischen Museum Thurgau, anhand einer Radbüchse den komplexen Mechanismus des Thurgauer Radschlosses. Bild: Julia Hanauer

Heute liegt die Waffe im Depot des kantonalen Historischen Museums

Nach dem Fund durch Jürg A. Meier und die Auflösung der Waffensammlung im Museum Rosenegg 2006 kam das Radschloss wie auch viele andere, für die Region relevanten Waffen ins Historische Museum Thurgau nach Frauenfeld, wo es bis heute im Depot aufbewahrt wird.

Jürg A. Meier ist froh, dass das Radschloss als Feuerzeug „überlebt“ hat, „es wäre sonst eingeschmolzen worden“, sagt er. „Es ist ein Glücksfall, dass es noch da ist. Das Thurgauer Radschloss ist eine Sensation seiner Zeit.“


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