von Jochen Kelter, 25.06.2020
Literatur auf dem Land
Vor 20 Jahren wurde das Bodman-Literaturhaus in Gottlieben eröffnet. Was hat sich seither getan? Jochen Kelter, der erste Programmchef des Hauses, erinnert sich.
Als das Bodman-Haus, so hiess es damals noch, im Mai 2000 feierlich seinen Betrieb in Gottlieben aufnahm, war das durchaus ein Wagnis, dessen sich die wenigsten bewusst waren: ein Literaturhaus in der ländlichen und kleinsten Gemeinde des Kantons, die eher für Hotellerie am Seerhein und Hochzeitstourismus bekannt war als für Kultur. Würden die Einwohner und Gäste sich an seltsame, mitunter recht trinkfeste Leute wie AutorInnen gewöhnen? Die beiden anderen Literaturhäuser, die etwa zeitgleich mit dem unseren als erste Schweizer Literaturhäuser ihre Türen öffneten, standen immerhin in Zürich und Basel.
Die Gründung des Bodmanhauses war eine Art Abschluss einer kulturellen Aufholjagd, die aus dem kulturellen «Holzboden» Thurgau im Zeitraum von etwa 15 Jahren eine fast schon blühende, mitunter wuchernde Kulturlandschaft machte: von den Ittinger Pfingstkonzerten über «KulT(h)urgau und Ittinger Literaturtage», die Gründung der vom Staat unabhängigen Kulturstiftung des Kantons, in deren Stiftungsrat neben von drei von der Regierung entsandten Vertretern auch drei Kulturschaffende und drei KulturvermittlerInnen Einsitz nehmen, das Jazzfestival «Generations» in Frauenfeld, die Vergabe von Kompositionsaufträgen, der Förderung von bildender Kunst und Fotografie bis hin zu einem eigenen Literaturhaus.
Besucherzahlen sind überschaubar, aber stabil
In der Probephase des Hauses übernahm die zehn Jahre zuvor gegründete Kulturstiftung des Kantons Thurgau die Betriebskosten, eine vergleichsweise bescheidene Gesamtsumme von 40`000 Franken jährlich. Gleichwohl, ob das gut gehen konnte: Literatur auf dem Land? Es ist gut gegangen. Die Besucherzahlen blieben über all die Jahre zumeist überschaubar, aber mit der Zeit entwickelte sich neben Gästen, die sich für eine ganz bestimmten Autor, eine Autorin interessierten, ein Stammpublikum von beidseits der nahen Grenze.
Und das Haus hat seither in seiner kleinen Stipendiatenwohnung über 30 AutorInnen für meist zweimonatige Aufenthalte beherbergt. Nach der Anlaufphase zahlt der Kanton die laufenden Kosten inzwischen aus dem Lotteriefonds – 50'000 Franken im Jahr ist ihm das wert.
Jede Programmleitung hat eigene Schwerpunkte gesetzt
Die verschiedenen Programmleiter oder Teams, es waren bisher insgesamt acht Personen, haben natürlich unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Programmierung gesetzt, inhaltlich und durch dir von ihnen eingeladenen Autoren/innen. Mitunter ist das Haus sogar «fremdgegangen» - in die Aula der Kantonsschule Kreuzlingen, die Landwirtschaftsschule Arenenberg oder den Klosterhof St. Gallen.
Der gesamte Literaturbetrieb und Buchmarkt haben sich in den vergangenen 20 Jahren noch einmal einschneidend verändert. Es werden bei etwa gleichbleibender Leserschaft immer mehr Bücher verlegt, die Qualität der Buchproduktion, der Literaturkritik und der Kulturberichterstattung nimmt allgemeinmerklich ab. Marketing und Veranstalter bestimmen die Inhalte, für Lyrik etwa ist in den Verlagsprogrammen kein Platz mehr. Vaudeville, Kunsthandwerk, gut Verdauliches werden als Literatur verkauft. Ein Kritiker schrieb über einen Roman von Daniel Kehlmann, er lese sich «wie von selbst».
Literatur sollte keine Lebensdekoration sein
Ein Literaturhaus wie das unsere sollte keine Literatur befördern, die sich wie von selbst liest. Dafür braucht es kein Literaturhaus. Das nämlich sollte nicht unbesehen Trends und Trendsettern folgen und sich dem Druck von Verlagen und Buchhandel entziehen.
Statt Unterhaltung und Lebensdekoration sollte es literarische Literatur zu befördern helfen, eine Literatur, die mit Sprache arbeitet, also unter die Oberfläche der Erscheinungen taucht und so Geschichte und Geschichten wie Luft zum Atmen in unser Bewusstsein befördert.
Hinweis: Jochen Kelter war von 2000 bis 2004 erster Programmleiter des Bodman-Literaturhauses.
Weiterlesen: Welche Pläne der neue Programmchef Gallus Frei hat und was AutorInnen über das Literaturhaus denken, steht in dem Text «Das Literaturhaus muss bekannter werden».
Von Jochen Kelter
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