von Bettina Schnerr, 15.09.2021
Mit Thurgauer Lesebuch das Lesen fördern
Die Frauenfelder Lesegesellschaft feiert ihr 200-Jahr-Jubiläum mit der Herausgabe des „Thugauer Lesebuchs“. Damit interpretiert sie die „Förderung des Lesens“ auf eine interessante Art und Weise neu.
Im März 1821 sah die literarische Welt anders aus als heute, erzählt Robert Fürer, Präsident der Frauenfelder Lesegesellschaft: „Bücher waren teuer und öffentliche Bibliotheken gab es noch nicht. Bücher zu kaufen und darüber zu sprechen, war wohlhabenden Menschen vorbehalten.“ In vielen Städten gründeten die Bürger daher ab etwa 1750 Lesegesellschaften. Deren Aufgabe war es, ausgewählte Werke zu beschaffen und ihren Mitgliedern zur Verfügung zu stellen.
In eben jenem März 1821 gründeten einige Frauenfelder unter Leitung des Regierungsrats Johann Konrad Freyenmuth eine Lesegesellschaft für ihre Stadt, um auch hier der Bildungsbewegung einen Weg für Debatten und Austausch zu ebnen. Während wohlhabendere Gesellschaften über eigene Räume verfügten, liessen andere, so wie jene in Frauenfeld, die Bücher unter den Mitgliedern herumgehen.
Neugründung nach rund 150 Jahren
Sehr lange hatte die Gesellschaft allerdings keinen Bestand, da es bald eine öffentliche Bibliothek gab, die die Verbreitung von Büchern übernahm. Die Bände der Lesegesellschaft gehören heute zu deren Bestand. Dass Frauenfeld erneut eine Lesegesellschaft hat, ist der Initiative von Robert Fürer zu verdanken und der Tatsache, dass Frauenfeld eine starke literarische Geschichte hat.
„Mit dem Verlag Huber in der Promenadenstrasse besass Frauenfeld einen Verlag mit sehr grossem Renomée,“ sagt Fürer. „Huber betrieb zudem die erste und älteste Buchhandlung des Kantons und auch die Thurgauer Zeitung hatte in der so genannten ‚Huberei‘ lange ihren Sitz.“ Doch 2005 wurden Verlag, Druckerei und Zeitung von den Eigentümern in Tranchen verkauft, das Gelände stand leer. Viel zu schade um die Tradition und die Geschichte, fand Fürer, der selbst bei der Zeitung und dem Verlag gearbeitet hatte.
Erhalt der Kulturgeschichte
Die 2014 neu gegründete Lesegesellschaft fand ihre Heimat in den renovierten Erdgeschossräumen der Huberei, von Fürer ganz bewusst so gewählt. „In diesem Haus setzen wir eine literarische Tradition fort,“ betont er. Die „Förderung des Lesens“ findet aber nicht nur im abgeschlossenen Raum statt: „Die Mehrheit unserer unserer Veranstaltungen ist für Mitglieder und deren Gäste, aber hin und wieder laden wir öffentlich ein.“
Die Gesellschaft vereint wie ihr historischer Vorläufer 40 Mitglieder. „Der kleine Kreis hilft, den persönlichen Kontakt zu erhalten,“ erzählt Robert Fürer. „Debatten unter Gleichgesinnten wollen wir vermeiden, weshalb wir die Mitglieder sehr divers auswählen, sei es beim Alter, beim Geschlecht oder bei politischen Interessen. Sonst dreht man sich mit dem Perspektiven schnell im Kreis.“
Querschnitt durch die zeitgenössische Thurgauer Literatur
Als Alternative zur sonst üblichen Festschrift initiierte die Lesegesellschaft nun zum 250-Jahr-Jubiläum das „Thurgauer Lesebuch“: „Wir möchten statt einer grossen Retrospektive lieber etwas für die Gegenwart und die Zukunft tun,“ kommentiert der Präsident. „Wir haben Autorinnen und Autoren eingeladen, die Themen Ankommen, Bleiben, Fortgehen oder Rückkehr mit dem Thurgau zu verknüpfen.“ Alle Beteiligten stammen aus dem Thurgau, leben hier oder waren einmal im Kanton zuhause. Und alleine daraus schon ergäben sich naturgemäss genug Ansatzpunkte. Doch nicht unbedingt greifen die Texte biografische Elemente auf.
„Wir haben Autorinnen und Autoren eingeladen, die Themen Ankommen, Bleiben, Fortgehen oder Rückkehr mit dem Thurgau zu verknüpfen.“
Robert Fürer
Die insgesamt nun 33 Beiträge im „Thurgauer Lesebuch“ sind in ihrer Art so vielfältig wie ihre Autoren und Autorinnen. Praktisch automatisch ergibt sich daraus ein Abbild der Schaffensbreite der hiesigen literarischen Tradition. Mit dabei sind renommierte Namen, aber auch junge Talente und Neuentdeckungen. Usama Al Shahmani, Zsuzsanna Gahse, Stefan Keller, Jochen Kelter oder Ruth Erat sind ebenso vertreten wie Tanja Kummer, Tabea Steiner, Zora Debrunner, Daniela Schwegler, Martina Hügi und Samantha Zaugg.
Es sind nicht nur Geschichten oder Essays, sondern auch Tagebucheinträge, Erzählungen, Lyrik, Kurzkrimis, sogar Reisetipps und typografische Spielereien. Unabhängig vom Text ergeben sich ebenso oft Einblicke in vergangene oder heutige politische und gesellschaftliche Strukturen, die Texte lassen schaudern bei verknöchert konservativen Abstimmungen und ein bisschen Gemeindefilz, sie schleichen sich ins Reich der Phantasie und greifen persönliche Biografien auf.
„Das Buch stellt das starke regionale Literaturschaffen ins Rampenlicht. So viele talentierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller leben im Thurgau oder kommen aus dem Thurgau. Das möchten wir mit diesem Buch sichtbar machen.“
Miriam Waldvogel
Thurgau durch und durch
Mit dem beteiligten Saatgut Verlag ist sogar ein junger Thurgauer Verlag aus Frauenfeld im Spiel. „Das Buch stellt das starke regionale Literaturschaffen ins Rampenlicht. So viele talentierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller leben im Thurgau oder kommen aus dem Thurgau. Das möchten wir mit diesem Buch sichtbar machen“, sagt Verlagsleiterin Miriam Waldvogel.
Der Verlag legt grossen Wert darauf, jedes Buch passend zum Inhalt zu gestalten. In diesem Fall war ein Taschenbuch die beste Wahl, denn ein Lesebuch soll natürlich einfach überall hin zum Lesen mitgenommen werden können. „Die schlichte Modernität in der Gestaltung unterstreicht, dass die Texte im Mittelpunkt stehen,“ so Waldvogel. Die Wahl des Motivs fiel bewusst: „Hier im Thurgau gibt es viele Stare und als Zugvögel passen sie sehr gut zum Themenkreis der Geschichten.“ Selbst die Titelworte passen sich grafisch an und bleiben, kommen und gehen.
Ein Lesebuch für gross und klein – wortwörtlich
Für die Klassen der Sekundarstufen werden zudem Lehrmaterialien erarbeitet, die Ende des Jahres verfügbar sein werden. Das ist ein Projekt, das Robert Fürer besonders am Herzen liegt: „So gelingt es, zeitgenössische Texte in den Unterricht einzubinden,“ meint er. „Die Texte haben ausserdem konkrete Bezüge zum Thurgau, die im Unterricht thematisiert werden können.“ Die Idee der Leseförderung wächst mit dem Sprung des Lesebuchs an die Schulen auf überraschende Weise in die Zukunft.
„Bleib doch – komm wieder. Thurgauer Lesebuch“
Lesung aus dem „Thurgauer Lesebuch“ mit Zsuzsanna Gahse, Martina Hügi und Michèle Minelli
Samstag, 25. September 2021, 18–19 Uhr
Kantonsbibliothek Thurgau
Die Autorinnen lesen aus ihren Geschichten im Rahmen der Frauenfelder Kulturtage. Im Gespräch mit Miriam Waldvogel verraten sie ausserdem, wie sich die Herkunft auf das Schreiben auswirkt und warum sie im Thurgau zu Hause sind – oder den Kanton verlassen haben.
Das Buch „Bleib doch – komm wieder. Thurgauer Lesebuch“
mit neuen Texten von 33 zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die aus dem Thurgau stammen, im Kanton leben oder gelebt haben. Sie erzählen Geschichten vom Aufbrechen und Ankommen, vom Bleiben und Weiterziehen.
ISBN 978-3-9525244-2-8
224 Seiten, Klappenbroschur, Saatgut Verlag Frauenfeld: www.saatgut.tg
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