von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter, 05.11.2020
Das erste Mal
Mit ihrem Debüt stellen sich KünstlerInnen der Welt vor. Der Weg dahin ist lang und entbehrungsreich. Warum es sich trotzdem lohnt: Eine Geschichte über grosse Leidenschaft, zerbrechliche Hoffnung und grandioses Glück.
Weisses Blütenpapier auf dem Tisch, ein edler Stift in der Hand, ein gedankenverlorener Mensch in einem maximal schummerig beleuchteten (Kerzen!) Raum. Auf einem furchtbar teuren, aber echt nachhaltigen Beistelltisch aus dem Manufactum-Katalog steht ein Kelch mit gut durch geatmeten Rotwein. So stellen sich auch im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter von Smartphone, Netflix und lernenden Algorithmen immer noch erstaunlich viele Menschen den Beginn künstlerischer Prozesse vor.
Möge der heilige Dreiklang aus Heimeligkeit (Hygge!), Alkohol und der feste Glaube an den guten Geschmack die gefeierten Romane, die umjubelten Theaterstücke, die neuen Stars von morgen gebären. Jaja. Manche Klischees sterben nie aus.
Will man derlei Vorstellungen vom magischen Zauber des Anfangs nachhaltig zertrümmern, muss man nur mal die vielfach ausgezeichnete Autorin Sibylle Berg nach ihren Erfahrungen vor ihrem Debüt fragen:
Und ihr Kollege Saša Stanišić ergänzt ebenfalls auf Twitter:
Mit dem Debüt tritt man in das Leben der anderen
Zieht man die twitter-übliche Ironie und den Sarkasmus ab, bleibt vor allem der Eindruck: Der Weg zum ErfolgsautorIn ist lang. Sehr lang. Und trotzdem setzen sich regelmässig Menschen hin, denken sich Handlungen aus, schreiben Geschichten auf und hoffen auf ihre literarische Entdeckung.
Was treibt diese Menschen an? Wie fängt man so was an? Und wie fühlt sich das an, wenn man mit einem künstlerischen Debüt, ganz gleicher welcher Sparte, vor ein Publikum tritt? Wenn man gewissermassen über sein eigenes Leben hinaus und in das Leben der anderen hinein tritt? Man plötzlich öffentlich wahrnehmbar wird, sich zeigt und, nun ja, heraus ragt?
Der Frauenfelder Schauspieler Giuseppe Spina hat die ersten Auftritte während seiner Ausbildung in der Schauspielschule nicht vergessen: „Ich kann mich noch heute an die urteilsvollen Blicke der älteren KommilitonInnen erinnern, während ich meine Einball-Jonglage-Szene zeigen musste“, schreibt er in einer E-Mail. Dieser erste Schritt in die Öffentlichkeit sei auch heute bei jedem neuen Stück ein Wagnis:
„Der Druck, der in den Minuten kurz vor so einer Premiere entsteht ist enorm. Schliesslich setzt man sich einem Urteil aus, wie wenn man vor Gericht stehen würde. In diesen Momenten bin ich bereit zu sterben. Es ist als ginge es gleich um mein Überleben. Kurz bevor ich dann ins Rampenlicht trete, öffnet sich etwas in mir, mein Blick wird wacher, meine Sinne werden schärfer und ein Gefühl der Befreiung kommt auf. Dann fühle ich keine Angst oder Verunsicherung mehr.“
„Man ist als Schriftsteller buchstäblich ein anderer Mensch, wenn das erste Buch erschienen ist.“
Michael Kumpfmüller, Autor
Michael Kumpfmüller hat vor 20 Jahren sein Debüt gefeiert mit dem Roman „Hampels Fluchten“. Für ihn ein Wendepunkt in seinem Leben: „Das Debüt ist ein Übergangsritual, so etwas wie die Taufe oder früher die Jugendweihe. Was danach ist, ist vorher nicht gewesen, und was vorher war kommt danach nicht wieder. Man ist als Schriftsteller buchstäblich ein anderer Mensch, wenn das erste Buch erschienen ist, man tritt aus den Schubladen heraus in die Welt, ganz gleich, ob die Welt das begrüsst“, schreibt er in einem lesenswerten Text auf dem Blogprojekt „das debüt“.
Kumpfmüller hat längst seinen Weg gemacht. Nicht nur sein Debüt wurde viel diskutiert. Auch die Nachfolgewerke fanden ihr Publikum. Heute ist er etablierter Schriftsteller, vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Alfred-Döblin-Preis.
Die Romantisierung des Anfangs
Was oft zu romantisch gesehen wird, sind die Mühen des Anfangs. Wenn man so will, das Debüt vor dem Debüt. Denn irgendwann muss man mit der Arbeit ja erstmal anfangen. Und ein Buch zu schreiben, ist richtig harte Arbeit. Tanja Dückers hat 1999 ihren ersten Roman „Spielzone“ im Aufbau-Verlag veröffentlicht. Sie fiel damals, unter anderem mit Alexa Hennig von Lange, unter den selten dämlichen Begriff des „Fräuleinwunder“.
Fast alle damals debütierenden Autorinnen wurden dort eingruppiert, ganz gleich, wie unterschiedlich sie schrieben. Tanja Dückers ärgert das bis heute. In einem eigenen Text schildert sie eindrücklich die Mühen des Schreibens. Jahrelang habe sie an ihrem Erstling gearbeitet: „Das Überarbeiten der Kapitel hat länger als das Schreiben gedauert“, schreibt sie.
Der komplizierte Umgang mit der Ablehnung
Für all das braucht es Ideen, Wissen, Gelassenheit und vor allem Durchhaltevermögen. Selbst heute als ErfolgsautorInnen bekannte Menschen hatten vor dem Erfolg eine zähe Phase des Misserfolgs. Joanne K. Rowlings Harry-Potter-Manuskript wurde von zahlreichen Verlagen abgelehnt, Sibylle Berg schrieb zahllose Text für den Mülleimer, auch Peter Stamm musste vor seinem Debütroman „Agnes“ mit etliche Absagen umgehen. Wer so eine intime Beschäftigung mit seinem Innersten wie das Schreiben zum Broterwerb erwählt, der kann manchmal vermutlich gar nicht anders als diese künstlerische Zurückweisung auch als persönliche Kränkung wahrzunehmen.
Wie schafft man es bei so viel Ablehnung, nicht aufzugeben?
„Wenn man anfängt zu schreiben, braucht man ja eine Grundeuphorie, sonst würde man die Mühe gar nicht auf sich nehmen“, sagt der in Winterthur lebende Peter Stamm. Später habe ihm geholfen, dass er auf anderen Gebieten Erfolg hatte und sich weiterentwickeln konnte. „Ich habe Hörspiele gemacht, konnte journalistisch arbeiten. Ich habe also nie nur verzweifelt an Manuskripten gearbeitet, die keiner haben wollte. Ausserdem bin ich ziemlich hartnäckig und ich wusste immer, dass man Ausdauer braucht in meinem Beruf“, erklärt Stamm.
„Ich bin ziemlich hartnäckig und ich wusste immer, dass man Ausdauer braucht in meinem Beruf.“
Peter Stamm, Schriftsteller (Bild: Anita Affentranger)
Was den ganzen Prozess so heikel macht: Selbst wenn das Manuskript fertig ist, weiss man ja noch lange nicht, ob es wirklich als Buch erscheint. Die Suche nach einem passenden Verlag kann für AutorInnen manchmal zermürbender sein als die eigentliche Schreibarbeit.
Das hat auch Karin Kalisa so erlebt. Sie hatte ein fertiges Manuskript, aber keinen Kontakt zu Verlagen. „Ich habe es dann so gemacht wie das wahrscheinlich Hunderte und Tausende Autorinnen und Autoren auch machen, nämlich eingetütet, auf dem Postweg direkt auf den Aktenberg, der Lektoren geschickt und naturgemäss keine Antwort erhalten oder wenn, dann nach vielen Monaten ein ablehnendes Formalschreiben erhalten, bis ich dann eher zufällig dazu kam, an Frauke Meyer-Gosau zu schreiben, die gerade angefangen hatte für den Beck-Verlag zu lektorieren im Berliner Raum“, verriet sie dem Deutschlandfunk Kultur.
Meyer-Gosau gefiel Kalisas Text, der Roman „Sungs Laden“ erschien, es war der Beginn einer glücklichen Zusammenarbeit. Manchmal kommt es eben auch darauf an, den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt zu begegnen.
„Um literarische Debüts durchzusetzen, braucht es in allen Abteilungen des Verlages ein ordentliches Quantum an Leidenschaft.“
Thomas Tebbe, Programmleiter Piper-Verlag
Literarische Debüts sind freilich nicht nur für AutorInnen ein Wagnis, sondern auch für Verlage. „Debüts haben die Schwierigkeit, dass man häufig an den Texten mehr machen muss“ sagte Thomas Tebbe, Programmleiter beim Piperverlag in einem Interview.
Die Verlage seien da mit vollem Einsatz gefordert: „Man muss den Namen natürlich neu etablieren, sodass es eigentlich in allen Abteilungen ein ordentliches Quantum an Leidenschaft braucht, um literarische Debüts durchzusetzen, weil man weiss, es ist in der Regel mit einer geringeren Auflage verbunden, es ist aber nötig für das Haus, für die Zukunft, für das Signal in die literarische Gemeinde, dass man Debüts macht. Also machen wir es gerne, aber es ist eben mit einem Quantum an Leidenschaft verbunden.“
Fragil bleibt das AutorInnen-Leben trotzdem: Auch mit Manuskript und Verlag in der Tasche ist ja noch nicht gesagt, dass das Buch bei den LeserInnen ankommt. Und falls ja: Wie geht man im Erfolgsfall mit der ganzen Öffentlichkeit um?
Was man gesucht hat, wird plötzlich lästig: Die Öffentlichkeit
Die Autorin Tanja Dückers empfand bei ihrem Debüt die plötzliche mediale Aufmerksamkeit als anstrengend: „Ständig musste man auf der Hut sein, was man sagte, fand sich am nächsten Tag seltsam und lückenhaft zitiert in einer Zeitung wieder. Man wurde ständig als öffentliche Person wahrgenommen, alles, was man sagte oder schrieb (oder was einfach an Äusserlichkeiten von einem wahrgenommen wurde) öffentlich kommentiert. Auch wenn es viel positive Resonanz gab, hätte ich mich einige Jahre lang am liebsten verkrochen“, schreibt Dückers.
Und das, obwohl ihr Debüt 1999 erschien, fünf Jahre bevor Facebook gegründet wurde. Heute ist die öffentliche Beobachtung und Beurteilung erfolgreicher Debüt-AutorInnen ungleich grösser. Dückers’ Lehre daraus: Verlage sollten junge AutorInnen heute mehr darauf vorbereiten, was da auf sie zukommt.
Das gespaltene Verhältnis zum eigenen Debüt
Zu ihrem Debütroman hat Tanja Dückers heute übrigens ein eher gespaltenes Verhältnis: „Mich rühren alte Bücher wie ‚Spielzone‘. So richtig gerne lese ich diese frühen Bücher von mir heute aber nicht mehr, weil ich immer mit ihnen unzufrieden bin. Ich würde ihn heute ganz anders von der Konzeption gestalten“, schreibt die Autorin.
Das geht auch Peter Stamm mit seiner „Agnes“ so. „Der Roman ist mir immer noch sehr nah und war es auch immer. Aber in den vergangenen 20 Jahren habe ich mich natürlich weiterentwickelt. Menschlich, stilistisch, mein Leben ist heute ein anderes als es damals war. Daher kommt meine Skepsis, ob ich den Roman heute wieder so schreiben könnte oder würde. Versuchte ich es, käme ein völlig anderes Buch heraus. Für mich ist das Reden über „Agnes" heute ein bisschen so wie das Reden über Kinderzeichnungen. Da ist auch manches schief und krumm, aber trotzdem hat es eine ganz eigene Qualität.“
Ist das zweite Buch wirklich das schwerste?
Und, noch eine letzte Hürde, nach so vielen Hindernissen im AutorInnen-Leben: Wie geht es nach dem Debüt eigentlich weiter? Das zweite Werk gilt gemeinhin als das schwerste. Michael Kumpfmüller kann zumindest in dem Punkt beruhigen. Er hält nichts von derlei Zuschreibungen: „Im Grunde sind alle Bücher gleich schwer. Das ist ein Fluch, aber eigentlich ein Glück, denn sonst gäbe es ja keinen Grund, an den Schreibtisch zurückzukehren und sich dort zwei, drei Jahre einer Mühe zu unterziehen, die mit Abstand die beste ist, die ich kenne.“
Die Lesungen & die Serie
„Debüts: Der erste Roman“ heisst eine Lesereihe von Judith Zwick, die im Laufe des November stattfindet. thurgaukultur.ch ist Kooperationspartner der Reihe. Coronabedingt finden alle Lesungen und Gespräche nun digital statt. Sie sind zu den angegebenen Terminen auf unserer Internetseite zu finden.
Die Lesungen:
Donnerstag, 12. November:
Ulrike Almut Sandig „Monster wie wir“.
Ein Briefwechsel und digitales Gespräch zwischen der Autorin und Judith Zwick
Donnerstag, 19. November:
Julia Langkau „Flussgeboren“.
Livestream-Lesung mit Gespräch. Moderation: Michael Lünstroth, Redaktionsleiter thurgaukultur.ch, Live über YouTube- und Facebook-Seite von thurgaukultur.ch
Donnerstag, 26. November:
Thilo Krause „Elbwärts“.
Ein Interview und eine digitale Lesung.
Weitere Details zu den Lesungen gibt es auch hier:
https://judithzwick.de/debuets/
Das Projekt wird gefördert vom Literaturhaus Thurgau, Kulturamt Konstanz, dem Fonds Neustart Kultur und der Buchhandlung Homburger & Hepp.
Die Serie:
Zur Lesereihe erscheint bei uns im November, immer sonntags, auch eine Artikelserie rund um das Thema „Debüts“, in der wir weitere lesenswerte Debütromane vorstellen. Alle Beiträge aus der Reihe bündeln wir im Themendossier «Debüts».
«Das erste Mal»: Ein Text zur Bedeutung von Debüts von Michael Lünstroth
Sonntag, 8. November:
Die Journalistin Bettina Schnerr bespricht das »Buch der geträumten Inseln« von Lukas Maisel. (Rowohlt Verlag. Hamburg/Berlin 2020)
Sonntag, 15. November:
Die Buchhändlerin Marianne Sax präsentiert »Siebenmeilenstiefel« von Simon Deckert (Rotpunktverlag 2020) und »Drei Leben lang« von Felicitas Korn (Kampa Verlag 2020).
Sonntag, 22. November:
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Özkan Ezli denkt nach über »Streulicht« von Deniz Ohde (Suhrkamp Verlag. Frankfurt a. M. 2020)
Sonntag, 29. November:
Die Autorin Tabea Steiner schreibt über »Roter Affe« _von Kaśka Bryla (Residenz Verlag. Wien/Salzburg 2020)
Weitere Beiträge von Michael Lünstroth・Redaktionsleiter
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- Die verlorene Ehre eines Bauern (25.05.2023)
- Zehnmal Zeit für Entdeckungen (17.05.2023)
- Wie wir uns weiter entwickelt haben (01.05.2023)
- Das 127-Millionen-Paket (02.05.2023)
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- Literatur
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- Belletristik
Ist Teil dieser Dossiers
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Kultur-Dienstleistungen, Kulturschaffende, Veranstaltende
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78464 Konstanz
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